Themenwoche Nachhaltige Wissenschaft/Hub 2: Komplexe Entscheidungsprozesse in Hochschulen systemisch verstehen und gestalten

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Komplexe Entscheidungsprozesse in Hochschulen systemisch verstehen und gestalten

Hochschulen sind lose gekoppelte Einheiten, die sehr unterschiedliche Interessen verfolgen. Das Verfolgen einer gemeinsamen Richtung ist für solche lose gekoppelten Einheiten sehr schwierig, insbesondere wenn die Ziele in Spannungsfelder und Dilemmata führen. Prof. Dr. Georg Müller-Christ, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltigkeit an Hochschulen, stellt die Logik von komplexen Entscheidungsprozessen [1] vor und erarbeitet mit den Teilnehmenden unterschiedliche systemische Konstellationen, die Entscheidungen in den Gremien für mehr Nachhaltigkeit erleichtern.

Foto Bror Giesenbauer
Moderation: Prof. Dr. Georg Müller-Christ





Eine Erkundungshaltung einnehmen

Um Transformation zu ermöglichen, müssen komplexere bzw. systemische Bilder zugelassen werden. Wir können der Welt auf zwei unterschiedliche Weisen begegnen: Entweder suchen wir nach Selbstbestätigung („kenne ich“) oder wir nehmen eine Erkundungshaltung ein („es könnte auch ganz anders sein“). Selbstbestätigung ist einfach und spart Energie, während eine Erkundungshaltung wertvolle Irritationen zulässt. Irritationen führen zu einem Selbstwirksamkeitsverlust und sind deshalb unangenehm, sie ermöglichen jedoch erst zu lernen. Eine Erkundungshaltung bedeutet, nicht sofort zu bewerten, denn jedes Bewerten ist ein Abbruch von Erkenntnis. Anstatt voreilig zu bewerten, sollte wertfrei beobachtet werden – auch sich selbst kann man dabei beobachten: Wie sind meine Gedanken, wenn ich diese Irritation zulasse?

Ein komplexes Nachhaltigkeitsverständnis

Hinter den SDGs steckt die Norm: „Wir wollen eine gerechte Welt!“. Das Problem an Normen ist jedoch, dass diese sich nicht endbegründen lassen, denn jeder Mensch kann jederzeit für sich beschließen, dass das nicht seine eigene Norm ist. Deshalb braucht Nachhaltigkeit eine Begründung über rationale Argumente: „Es ist nur klug, Ressourcen zu schonen, weil wir sonst unseren Wohlstand nicht halten können.“ Viele Organisationen verfolgen das „einfachste“ Nachhaltigkeitsverständnis der Öko-Effizienz – möglichst wenig Ressourceneinsatz bei großem Ressourcenoutput. Dieses Verständnis ist aber nichts anderes als betriebswirtschaftliche Rationalisierung und verspricht eine Win-Win-Situation der ökonomischen und ökologischen Dimension. In einem komplexeren Verständnis führt Nachhaltigkeit jedoch zu Dilemmata, die Trade-Offs produzieren: Die ökonomische, soziale und ökologische Dimension lassen sich nicht gleichzeitig steigern. Ein ressourcenorientiertes Nachhaltigkeitsverständnis entspricht einem Ressourcenverbrauch, der gleich dem Ressourcennachschub ist (Substanzerhaltung). Diese Haushaltsperspektive betont die Regeneration von Ressourcen.[2] Für Unternehmen bedeutet echtes Nachhaltigkeitsengagement somit eine Effizienzreduzierung im Kerngeschäft (=Trade-Off der Nachhaltigkeit), und keine Win-Win-Situation.


Impuls: Die Teilnehmenden diskutierten darüber, dass es noch weitere Nachhaltigkeitsverständnisse als die hier dargelegte Ressourcenperspektive gibt. Uneinheitliche Nachhaltigkeitsverständnisse sind ein Grund dafür, warum die Umsetzung von Nachhaltigkeitsmaßnahmen so schwer ist.

Ein kurzer Hinweis: Das Wort „nachhaltig“ ist nicht das passende Adjektiv zum Wort "Nachhaltigkeit", da es auch im Sinne von „nachhaltend" bzw. „langanhaltend wirken“ verstanden werden kann. Gerade in einem Kontext, in dem Menschen nicht so vertraut mit dem Thema Nachhaltigkeit sind, sollte das Adjektiv "nachhaltig" deshalb lieber vermieden werden.


Gerangel der Entscheidungsprämissen an Hochschulen

Um das komplexe System Hochschule aus einer systemischen Perspektive zu beleuchten, sollen an dieser Stelle die unterschiedlichen Entscheidungsprämissen in Hochschulen verdeutlicht werden, die in einer Art Gerangel um ihre jeweilige Bedeutung kämpfen.

IMG 7704.jpeg
Systemische Visualisierung der Entscheidungsprämissen in Hochschulen (die Pfeile zeigen die Blickrichtungen der Teilnehmenden an)

Es gibt zwei grundsätzliche Entscheidungsprämissen, die Zweck/Ziel getrieben sind und aus dem System Hochschule heraus kommen:

  • Funktionalität (Es muss funktionieren!)
  • Effizienz (Es muss sich rechnen!)

Die beiden Prämissen erzeugen jedoch Trade-Offs: Eine Erhöhung des einen geht meist zu Kosten des anderen.

Dazu kommt die Bewältigung von Nebenwirkungen bzw. Restriktionen, die von außerhalb auf das System einwirken:

  • Legalität (Es muss gesetzeskonform sein!)
  • Ethik (Es muss moralisch einwandfrei sein!)
  • Nachhaltigkeit (Es muss die Substanz erhalten werden!)

Um das Gerangel der Entscheidungsprämissen in Hochschulen zu visualisieren, wurde mit den Teilnehmenden ein systemisches Standbild erzeugt. Prof. Dr. Georg Müller-Christ bot seine mentale Landkarte des Hochschulsystems an:

  • Legalität, Funktionalität und Effizienz sind am längsten da und spielen deshalb bei Entscheidungen immer eine große Rolle.
  • Dann kam die Ethik dazu, die aber eher im Hintergrund bleibt: Themen wie Diversity etc. müssen immer wieder „laut schreien“, sonst verlieren sie an Bedeutung im System.
  • Nachhaltigkeit kam als letztes Thema dazu und wird nicht großartig bedacht. Wird die Nachhaltigkeit näher an die Hochschulleitung gerückt, so geht das zu Lasten von Zeit, Geld und Aufmerksamkeit der anderen Elemente.
  • Impuls: Was passiert, wenn dann (Wettbewerbs-)Druck (von außen) dazu kommt?

Komplexitätsbewältigung: Ein System muss über Trade-Offs reden können!

Komplexität kann nur bewältigt werden, wenn (an-)erkannt wird, dass die Entscheidungsprämissen im System vielfältig und unvereinbar sind. Jede Neusortierung von Entscheidungsprämissen erzeugt einen Preis (Trade-Off), der gezahlt werden muss. Jede Entscheidung für eine Alternative ist eine Entscheidung gegen die anderen Alternativen und für bestimmte Nebenwirkungen. Auch eine Nicht-Entscheidung ist eine Entscheidung und erzeugt Trade-Offs. Über genau diesen Preis bzw. die Tade-Offs muss ein System reden können. Meist ist es so, dass die „Schwächsten“ die Nebenwirkungen abbekommen. Stattdessen braucht es innerhalb des Systems Aushandlungsprozesse, in denen Menschen zustimmen, gerade mal die Nebenwirkungen auf sich zu nehmen und in ihrer Bedeutung zu verzichten: „Für die Nachhaltigkeit verzichten wir heute auf…, aber wir wollen dafür…“.

Das Potenzial von Erkundungsaufstellungen für Transformationen

Systemtransformation: Jede Transformation beginnt mit einer Veränderung der Selbsterzählung!

Jede Transformation beginnt mit einer Veränderung der Selbsterzählung, denn die Außenwelt ist ein Abbild der Innenwelt der Menschen. Wenn sich die Außenwelt grundlegend verändern soll, muss sich die Innenwelt der Menschen transformieren. Jede Veränderung fängt beim Menschen, also bei uns selbst, an. Um das System neu erzählen zu können, müssen wir aber erst einmal andere Bilder sehen, um dann auch andere Bilder erzeugen zu können. Dabei können Erkundungsaufstellungen helfen. In einer komplexen Welt müssen wir uns auch komplexer in die Welt erzählen. Je komplexer die Außenwelt, desto höher muss die Eigenkomplexität des Menschen sein. Dazu braucht es auch eine hohe Ambiguitätstoleranz, die sich dadurch auszeichnet, Ambivalenzen aushalten zu können und „ja, und“ anstatt „ja, aber“ zuzulassen.

Relevante Systemgesetzmäßigkeiten für die Nachhaltigkeit

In jedem System gibt es gewisse Systemgesetzmäßigkeiten, die bei einer Transformation bedacht werden müssen. Im Kontext der Transformation zur Nachhaltigkeit sind besonders folgende Systemgesetzmäßigkeiten relevant:

  • „Früher“ hat Vorrang vor „Später", da „Früher“ schon mehr für das System geleistet hat. Ein Weg an den Gesetzmäßigkeiten vorbei geht deshalb nur unter Würdigung dessen, was bereits da ist. Das bedeutet für den Nachhaltigkeitskontext: Nachhaltigkeit darf sich nicht einfach plötzlich vorne anstellen und die höchste Bedeutung einfordern, sondern muss das kennen und würdigen, das schon da ist, und sich dann mit den anderen Themen verbinden, ohne sie zu entwerten!
  • „Neues“ hat Vorrang vor „Altem“, wie ein Säugling, der neu in eine Familie kommt. Das bedeutet für den Nachhaltigkeitskontext: Wenn das Thema Nachhaltigkeit weiter an Bedeutung gewinnen soll (= Zeit, Geld und Aufmerksamkeit bekommen), muss es dauerhaft „genährt“ werden, da es sonst „verhungert“. Es darf aber nur so lange vorne stehen, bis es genug genährt wurde, um auf eigenen Beinen zu stehen, und muss sich dann wieder hinten anstellen, da "Früher" Vorrang vor "Später" hat.

Diese Systemlogiken sollen zeigen, dass oft nicht der Mensch das "Problem" ist, sondern die Systemlogiken, die Veränderungen erschweren. Bei der Transformation zur Nachhaltigkeit muss somit verstärkt auf Systemlogiken geschaut werden.

Literaturverzeichnis

  1. Müller-Christ, G., Pijetlovic, D. (2018). Komplexe Systeme lesen lernen: Das Potential von Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis, Springer, Berlin. doi.org/10.1007/978-3-662-56796-8
  2. Müller-Christ, G. (2020). Nachhaltiges Management: Über den Umgang mit Ressourcenorientierung und widersprüchlichen Managementrationalitäten - Handbuch für Studium und Praxis, 3. Aufl., Nomos, Baden-Baden. doi.org/10.5771/9783845291680
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